Themen
Die Rubrik „Themen“ soll den Besucher_innen unserer Seite Hintergrundwissen, Details und einen möglichst umfassenden Einblick in die Zeit des Nationalsozialismus gewährleisten. Dabei spielt Döbeln nur eine untergeordnete Rolle, jedoch helfen die gebotenen Informationen, Wissenslücken zu schließen und Zusammenhänge besser zu verstehen. Die direkten Bezüge zur Döbelner Geschichte werden durch Links unter den jeweiligen Thementexten bereit gestellt.
Die thematischen Inhalte folgen denmächst.
Die thematischen Inhalte folgen denmächst.
Die thematischen Inhalte folgen denmächst.
1933 gehörten 95 % der deutschen Bevölkerung der evangelischen oder katholischen Kirche an. 41 Millionen Protestant_innen und 21 Millionen Katholik_innen waren durch christliche Werte geprägt. Somit sahen sich die Kirchen als Mitgestalter der Gesellschaft auf der Basis christlicher Überzeugungen und hatten einen bedeutenden Einfluss.[1] Vor allem in der katholischen Kirche waren viele Kirchenmitglieder aktiv in die Gemeinde(-arbeit) eingebunden. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialist_innen änderte sich die Stellung der Kirchen im deutschen Staat erheblich. Innerhalb der Kirchen gab es keinen einheitlichen Umgang mit den Nationalsozialist_innen und ihrer Ideologie, sondern eine Vielfalt an Reaktionen zwischen Kollaboration, Anpassung, Resistenz und offenem Widerstand.
Einstellung der Nationalsozialist_innen zur Kirche
In ihrem Parteiprogramm aus dem Jahr 1920 behauptete die NSDAP „den Standpunkt eines positiven Christentums“[2] zu vertreten. Diese vage Formulierung entsprach der Überlegung, die Gunst christlicher Wähler_innen aufrechtzuerhalten, sodass sich bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 viele mit den Zielen der NSDAP identifizieren konnten.[3] Innerhalb der NSDAP war jedoch – auch durch Hitler geprägt – die Einstellung zur Kirche radikal: eine vollständige Trennung von Kirche und Staat stand als kurzfristiges Ziel im Vordergrund; langfristig sollte durch die Auflösung der Kirche ein christlicher Einfluss auf das „Deutsche Volk“ unterbunden werden. Stattdessen sollten christliche Traditionen und Vorstellungen durch nationalsozialistische verdrängt werden, sodass die nationalsozialistische Ideologie als politische Religion verstanden werden konnte[4]; der Führerkult entsprach einem Glauben an den Messias, das „Tausendjährige Reich“ nahm paradiesische Ausmaße an und die Feiertage des Kirchenjahres wurden durch neue Feste und Feiertage ersetzt.[5]
Einstellung der Kirchen zum Nationalsozialismus
Die Nationalsozialist_innen und die christlichen Kirchen waren im Bezug auf ihre Weltanschauung unvereinbar. Trotzdem erreichte die NSDAP bei protestantischen Wähler_innen eine größere Zustimmung. Diese unterschiedliche Bewertung des Nationalsozialismus durch Katholik_innen und Protestant_innen war geschichtlich bedingt.
Seit Luther gab es stets ein gefestigtes Bündnis zwischen den evangelischen Landesherren und den kirchlichen Institutionen. Im 19. Jahrhundert war die evangelische Kirche in der deutschen Monarchie gefestigt worden. In den Wirren des Ersten Weltkrieges und durch den Zusammenbruch des Kaiserreichs 1918 geriet das Bündnis von „Thron und Altar“ ins Wanken.[6] Die Weimarer Republik und der Versuch einer demokratischen Gesellschaft wurden als Ursache für Missstände abgelehnt und die Verantwortung dafür der Arbeiterbewegung und den Katholik_innen gegeben, die mit ihren Parteien SPD und Zentrum als sogenannte Weimarer Koalition an der Reichsregierung beteiligt waren. Zudem gab es innerhalb der evangelischen Kirche keine einheitliche Organisation und ein Nebeneinander von Lutheranern, Reformierten und Unierten. In diesem Zusammenhang erschien das Eintreten für eine geeinte „Deutsche Reichskirche“ und das Bekenntnis zu einem „positiven Christentum“ der Nationalsozialist_innen für Wähler_innen attraktiv.[7]
Im Gegensatz dazu standen katholische Wähler_innen den nationalsozialistischen Überzeugungen mit größerer Ablehnung und Skepsis gegenüber. Im Kaiserreich hatten katholische Kirche und katholische Parteien unter Reichskanzler Bismarck viele Einschränkungen in ihrer Autonomie erdulden müssen („Kulturkampf“), dabei wurde der innere Zusammenhalt zwischen der Kirche und ihren Organisationen gestärkt. Die katholische Kirche konnte sich 1933 auf einen großen Rückhalt durch den Vatikan und innerhalb der kirchlichen Vereine und Verbände, der katholischen Presse und dem politischen Katholizismus berufen und eine geschlossene Position vertreten: Eine Idee des „völkischen Nationalismus“ wurde abgelehnt, die Eigenständigkeit der Kirche sollte bewahrt werden und nicht in einem neuen System unter der Führung Hitlers aufgehen.[8] Gleichzeitig konnte man auch Parallelen zwischen Ansichten der Kirche und der Nationalsozialist_innen festmachen: beide lehnten den Kommunismus strikt ab, man trat für den Erhalt traditioneller Werte und gegen den „Sittenverfall“ ein und erhoffte sich in einer „Volksgemeinschaft“ das Ende des Klassenkampfes. Auch in einem traditionell tief verwurzelten Antijudaismus der christlichen Kirchen fanden sich Anknüpfungspunkte für die nationalsozialistische Propaganda.[9]
Die Kirchen nahmen nach der Machtübernahme durch Hitler und die Nationalsozialist_innen Anfang 1933 eine zum Teil ablehnende, aber vor allem abwartende Haltung ein. Man war bereit, die neue Regierung anzunehmen und der staatlichen Autorität zu gehorchen und erhoffte somit eine einvernehmliche Koexistenz, die sich jedoch bald als Illusion erwies.
Die Evangelische Kirche:
Die Deutschen Christen und die Bekennende Kirche
Innerhalb der evangelischen Kirche ließen sich zwei Tendenzen im Verhalten gegenüber den Nationalsozialist_innen unterscheiden. Bereits im Sommer 1932 gründeten sich die Deutschen Christen (DC), die sich auf das „Positive Christentum“ im Parteiprogramm der NSDAP bezogen und damit großen Zulauf gewannen. Ein Jahr nach ihrer Gründung erhielten sie bei den Bischofswahlen große Anteile. Zur besseren Kontrolle wurde von Seiten der Regierung die Bildung einer evangelischen Reichskirche vorangetrieben, in der im Juli 1933 die Landeskirchen zusammengeführt wurden. Im September wurde Ludwig Müller, ein Mitglied der NSDAP und der Deutschen Christen, zum Reichsbischof ernannt.[10] Damit war die kirchliche Unabhängigkeit in wenigen Monaten untergraben.
Als im Spätsommer 1933 der „Arierparagraph“ auch für kirchliche Bedienstete eingeführt wurde und Pfarrer_innen mit jüdischer Herkunft von ihrer Berufsausübung ausgeschlossen wurden, regte sich Widerstand in den Reihen der evangelischen Pfarrer_innen. Im September 1933 wurde der Pfarrernotbund als Gegenbewegung zu den Deutschen Christen und der Reichskirche von dem Pfarrer Martin Niemöller gegründet. Schon im Januar 1934war ein Drittel der evangelischen Pfarrer_innen Mitglied des Pfarrernotbundes. In der Barmer Theologischen Erklärung sprachen sich die Pfarrer_innen des Notbundes gemeinsam gegen eine Infiltrierung des evangelischen Glaubens durch völkische und rassistische Überzeugungen der Nationalsozialist_innen aus und gründeten Bekenntnisgemeinden, die in der Bekennenden Kirche zusammengefasst wurden. Auch wenn die Bekennende Kirche keinen politischen Protest zum Ausdruck bringen wollte, wurde ein radikales Vorgehen gegen die Pfarrer_innen angesetzt. Die Einschüchterungsversuche bewirkten zum Teil die Anpassung an das Regime, auf der anderen Seite bestärkten sie auch einige Pfarrer_innen zu einer stärkeren Opposition.[11]
Der Begriff „Kirchenkampf“
Mit dem Begriff „Kirchenkampf“ wurde ab 1933/34 ursprünglich in der evangelischen Kirche die Gegensätze zwischen den „Deutschen Christen“ und der Bekennenden Kirche benannt. Bald wurde dieser Begriff jedoch umfassender gebraucht: er bezeichnete das Spannungsfeld zwischen dem Anspruch der Kirchen, das Evangelium unverfälscht zu verkündigen, und dem Anspruch der Nationalsozialist_innen, einen allumfassenden Einfluss auf das Leben und Denken der Deutschen zu erreichen. Lange hielten die Kirchen an der Vorstellung fest, dass sie nicht dem politischen Widerstand zugerechnet würden, wenn sie sich auf rein theologischer Ebene mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzten. Die Nationalsozialist_innen verstanden aber jegliche Kritik als Aufbegehren gegen ihre Politik und verfolgten alle kirchlichen Vertreter_innen, die sich gegen die Diktatur wandten.
Die Katholische Kirche:
Reichskonkordat und Enzyklika
Im Zuge der „Gleichschaltung“ wollten die Nationalsozialist_innen direkt nach ihrer Machtübertragung möglichst viel Einfluss auf alle gesellschaftlichen Bereiche gewinnen. Dazu wurde die Abstimmung über das „Ermächtigungsgesetz“ vorangetrieben. Dieses sollte es ermöglichen, Gesetze ohne die Zustimmung des Reichstags, des Reichsrats und des Reichspräsidenten zu erlassen. Die katholischen Parteien Zentrum und die Bayerische Volkspartei (BVP) stimmten unter Aushandlung von Zusicherungen für die katholische Kirche, die in einem Reichskonkordat festgeschrieben werden sollten, dem Ermächtigungsgesetz zu.[12] Mit diesem Gesetz besiegelten die katholischen Parteien aber auch ihren eigenen Untergang; die Auflösung des Zentrums und der BVP folgten Anfang Juli 1933. Durch das gesetzmäßige Vorgehen war aber ein Anschein der Rechtmäßigkeit gewahrt.
Nur wenige Wochen später wurde zwischen dem Vatikan als Vertretung der römisch-katholischen Kirche und der nationalsozialistischen Regierung das Reichskonkordat abgeschlossen. In diesem Vertrag wurden den Gläubigen eine freie Religionsausübung und das Bekenntnis zur Religion zugesichert, darüber hinaus wurden die Institutionen der katholischen Kirche mit ihren Schulen, theologischen Fakultäten und wohltätigen Verbänden anerkannt. Die Kooperation des Vatikans mit der nationalsozialistischen Regierung beruhigte die katholische Bevölkerung.[13]
Im Alltag der dreißiger Jahre folgten jedoch schon bald direkte oder indirekte Eingriffe in kirchliche Bereiche durch den Staat. Das Verbot der gleichzeitigen Mitgliedschaft in kirchlichen und staatlichen Verbänden traf auch besonders Jugendliche, die in katholischen Vereinen organisiert waren. Zahlenmäßig waren 1933 die evangelischen und katholischen Jugendverbände mit 1,6 Millionen Mitgliedern der Hitlerjugend (HJ) mit nur 70.000 Mitgliedern weit überlegen. Der Aufstieg der HJ zu einer Massenorganisation wurde durch konsequente Diffamierung der christlichen Verbände bis zu einem Verbot und der Überführung aller Mitglieder in die HJ von Seiten des Staates betrieben. Auch wenn viele Maßnahmen der Parteistellen gegen die Kirchen ohne eine einheitliche planmäßige Ordnung erfolgten, schwächten sie die Opposition gegen die Nationalsozialist_innen.[14] In den Devisen- und Sittlichkeitsprozessen wurden 274 Geistliche des illegalen Geldtransfers und homosexueller Handlungen verdächtigt und auch verurteilt. Diese Prozesse dienten dabei der nationalsozialistischen Propaganda gegen die Kirche. [15]
Im November 1936 gab es ein Treffen von Hitler mit dem Münchner Erzbischof Kardinal von Faulhaber. Hitler erhoffte sich, die Eigenständigkeit der katholischen Kirche beenden und sie in eine Reichskirche überführen zu können, um so mehr Kontrolle und Druck auf die Geistlichen ausüben zu können. Faulhaber aber beharrte auf den kirchlichen Freiheiten und Rechten, die im Reichskonkordat zugesichert worden waren. Auch wenn diese Entscheidung kirchenintern kritisch diskutiert wurde, demonstrierte man nach außen Geschlossenheit.[16]
Im März 1937 meldete sich das Oberhaupt der katholischen Kirche zu Wort: Papst Pius XI. hatte sich bisher eher defensiv verhalten, um die Kirche zu schützen. Nun aber wurde eine Enzyklika (päpstliches Rundschreiben) „Mit brennender Sorge“ veröffentlicht. In dem Papier wurde offen die nationalsozialistische Kirchenpolitik angeprangert. Dieser direkten Konfrontation folgte eine unmittelbare Steigerung der Gewalt gegen den katholischen Klerus. Insgesamt wurden 417 deutsche Priester in Konzentrationslager gebracht, fast die Hälfte davon starb an den schlechten Bedingungen in den Lagern oder wurde von den Nationalsozialist_innen ermordet.[17]
Die Kirchen im Zweiten Weltkrieg
Ab 1937 lenkte Hitler seinen Fokus immer mehr auf die Außenpolitik des „Dritten Reiches“. Während die Kriegsvorbereitung Wirtschaft und Politik in Anspruch nahmen, versuchte man im innenpolitischen Bereich Unruhe zu vermeiden und Auseinandersetzungen mit den Kirchen auf eine Zeit nach dem Krieg zu verschieben. Durch eine „Politik der Nadelstiche“, ein gezieltes Vorgehen auf lokaler Ebene gegen christliche Oppositionelle und Querdenker_innen durch die Parteistellen, versuchte man, die kirchlichen Institutionen zu kontrollieren und ihren Einfluss zurückzudrängen.[18]
Sowohl bei Erlass der „Nürnberger Gesetze“ 1935, mit denen jüdischen Bürger_innen geringere Rechte zugesprochen wurden, als auch bei der „Reichspogromnacht“ 1938, bei der Synagogen, jüdische Geschäfte und Häuser zerstört und jüdische Bürger_innen verfolgt, inhaftiert oder ermordet wurden, sowie angesichts der Deportationen im Zweiten Weltkrieg erfolgte seitens der Kirchen kein öffentlicher Protest und keine Solidarisierung mit der jüdischen Bevölkerung. Stattdessen versuchte man, dass Fortbestehen der eigenen Institutionen und eigene Interessen zu sichern. Bei Kriegsausbruch wurde auch von den Kirchen das „Gebot nationaler Geschlossenheit“ ausgegeben, dem die einzelne Meinung unterzuordnen sei.[19] Einige Geistliche predigten gegen das Unrecht, wie der katholische Bischof von Münster Graf von Galen, der 1941 Protestpredigten gegen Euthanasie verfasste. Andere gingen in den Kreis aktiver Widerstandskämpfer_innen. Beispielhaft ist der evangelische Pfarrer Dietrich Bonhoeffer anzuführen, der von den Nationalsozialist_innen verhaftet und kurz vor Kriegsende (09. April 1945) im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet wurde.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges folgte im August 1945 ein Schuldbekenntnis von Seiten der katholischen Kirche und im Oktober das Stuttgarter Schuldbekenntnis des Rats der evangelischen Kirche. In der katholischen Kirche herrschte die übereinstimmende Meinung, dass Katholik_innen im Zentrum des Widerstandes gegen das NS-Regime agiert hätten. Unterstützung und Täterschaft in der NS-Zeit wurden, wenn überhaupt, lediglich der Verantwortung einzelner Gläubiger, nicht jedoch der gesamten Institution Kirche und den Bischöfen zugeschrieben. In dem Hirtenbrief der katholischen Bischöfe vom 23. August 1945 wurde an die Verantwortlichkeit der Einzelnen verwiesen, jedoch keine institutionellen Verfehlungen oder Versäumnisse anerkannt.[20] Eine weitere Stellungnahme erfolgte 1979, in der Loyalität und Gehorsam der kirchlichen Institution zum Staat betont wurde und die Entscheidung zwischen Ablehnung der NS-Ideologie und der uneingeschränkten Staatstreue in die Verantwortlichkeit der einzelnen Gläubigen gestellt wurde.[21] Das von der Ratstagung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verfasste Stuttgarter Schuldbekenntnis verwies deutlicher auf die eigene Schuld und Versäumnisse, wurde aber durch die vorherrschende Verdrängung der Schuld in der Bevölkerung nicht angenommen. In einem Wort „zum politischen Weg unseres Volkes“ wurde 1947 direkter und umfassender die Schuld erkannt und benannt. Jedoch wurde auch diese Erklärung nicht nur begrüßt, sondern auch infrage gestellt. Auch in der evangelischen Kirche wurde eine systematische Entnazifizierung der Kirchenvertreter_innen nicht durchgeführt.[22] Erst in der Retrospektive und nach dem Ausscheiden der persönlich Beteiligten konnte und kann nach und nach die Schuld und das Versäumnis der Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus eingestanden werden.
Mehr zur Kirche im Nationalsozialismus in Döbeln im Pin Kirche
Die thematischen Inhalte folgen denmächst.
Im nationalsozialistischen totalitären Staat wurde, wie in allen anderen gesellschaftlichen und alltäglichen Bereichen, die Medizin und das GESUNDHEITSWESEN gleichgeschaltet und mit nationalsozialistischer Ideologie infiltriert. Ausgangspunkt für die Veränderung in der Medizin im NS-Staat war ein neues, rassenideologisch begründetes Menschenbild, das Menschen nach ihrer vermeintlichen „Werthaftigkeit“ einteilte. Daraus ergaben sich Konsequenzen zur Inklusion und Exklusion bestimmter Personengruppen. Maßgebend war nicht das Individuum, sondern der Erhalt und Dienst an der „Volksgemeinschaft“, dem „Volkskörper“, für dessen Behandlung die Medizin gebraucht und missbraucht wurde.
I. Entstehung und Ausprägung von Sozialdarwinismus und Rassenlehre im 19. Jahrhundert – begriffliche Grundlagen – eugenische Überlegungen vor 1933
Die Entwicklung der Bevölkerung und einhergehende Reaktionen auf sich verändernde Bedingungen in der Gesellschaft beschäftigt Wissenschaftler_innen und Philosoph_innen seit jeher. Der Blick auf den Wert eines einzelnen Individuums in einer Nation und die Betrachtung des gesellschaftlichen Fortschritts wurde ab dem 19. Jahrhundert aufgrund des rasanten Bevölkerungswachstums und der Industrialisierung im Rahmen der ökonomischen und naturwissenschaftlichen Forschung neu fokussiert.[1]
Im vorangegangenen Absolutismus war aus einer wachsenden Bevölkerung eine wachsende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit abgeleitet worden. Der britische Sozialphilosoph Malthus widersprach dieser Ansicht jedoch in seinem 1798 erschienenen „Essay on the Principle of Population“. Dem exponentiellen Bevölkerungswachstum stehe ein nur linearer Anstieg der Nahrungsmittelproduktion gegenüber. Aus der Bevölkerungsüberproduktion resultiere eine Verelendung der Menschen durch Unterversorgung und Mangelernährung. Eine Lösung dieser ungleichen Entwicklung sei in der Marktwirtschaft nicht gegeben (malthusian crisis).[2]
Bedeutenden Aufschwung erfuhr im 19. Jahrhundert neben der Diskussion der veränderten Ökonomie die Biowissenschaft, die sich von der Dominanz der anderen Naturwissenschaften und der früheren Naturlehre zum „Gottesbeweis“ emanzipierte. Der französische Botaniker und Zoologe Lamarck stellte in seiner Evolutionstheorie die These auf, dass Individuen erworbene positive Eigenschaften auf ihre Nachkommen vererben (Lamarckismus). Lamarck ging von der EXISTENZ von Urzuständen jeder Art aus, die sich im Laufe der Zeit an die Umwelt anpassen und dadurch weiterentwickeln.[3]
Die Annahme, dass Arten einem Wandel unterliegen, sollte die Grundlage für die Evolutionstheorie des britischen Naturwissenschaftlers DARWIN bilden. Er verband in seiner Evolutionstheorie die Überlegungen von Malthus zu der problematischen Bevölkerungsexplosion und die Theorie von Lamarck zu der Veränderlichkeit der Arten. Dazu fügte er die Selektion der Individuen durch den Konkurrenzkampf unter den Nachkommen um Nahrung, Ressourcen und das Überleben („struggle for life“). In dem Werk „On the Origin of Species by Means of Natural Selection“(1859) beschreibt Darwin seine Theorie der Entwicklung der Arten, bei der durch das Überleben des am besten Angepassten („survival of the fittest“) eine Auslese stattfindet. Diese als Darwinismus bezeichnete Theorie wurde in Gegenüberstellung zum Lamarckismus über die wissenschaftliche Rezeption hinaus in der Gesellschaft diskutiert und als sozialwissenschaftliche Theorie (Sozialdarwinismus) auf die menschliche Population übertragen.[4]
In der Folge ergaben sich vielfältige Auseinandersetzungen mit den neuen Theorien. Diese äußerten sich in Diskussionen, neuen Lehrmeinungen und weiteren Forschungen und entwickelten sich in unterstützende oder gegensätzliche Richtungen.[5] Spezifisch für das ausgehende 19. Jahrhundert und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist der Biologismus, der den Versuch beschreibt, individuelles und gesellschaftliches Verhalten auf biologische Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen. Ein Teil dieser Überlegungen umfasste die Rassenanthropologie, die den Begriff der „Rasse“ benutzte, um eine Einteilung auch der Menschen nach bestimmten äußeren Merkmalen zu vollziehen. Abgesehen von einer subjektiven Betrachtung von empirischen Merkmalen wurden auch individuelle Merkmale und Eigenschaften wie Charakter, Verhalten und Fähigkeiten bestimmten Rassen zugeordnet. Unzureichend wurde darüber hinaus die Abgrenzung des biologischen Terminus „Rasse“ und des Begriffes „Volk“ vollzogen. Dabei muss zwischen der biologischen, heutzutage in der Zoologie anhand genetischer Faktoren erklärbaren Einteilung von Tierarten einerseits und einer Gruppierung von Menschen, die als „Volk“ in einem gemeinsamen Sprach- und Kulturraum eine VERBINDENDE Identität besitzen, andererseits unterschieden werden.[6]
In der Rassenanthropologie entwickelten sich neben der Abgrenzung verschiedener Rassen auch rassistische Ansichten, nach denen die Rassen als bestimmendes Merkmal eines Menschen geltend seien und eine Wertung und Ungleichheit der Rassen beinhalten. Als weitere Komponente wurden rassenantisemitische Überzeugungen laut, die sich auf traditionell christlichem Antijudaismus gründeten und durch eine pseudowissenschaftliche Grundlage einer Rassentheorie ergänzt wurden. Insgesamt ergab sich im Rassenantisemitismus ein Konglomerat mit rassistischen, antisemitischen, sozialdarwinistischen und nationalistischen Bestandteilen. RASSISMUS hatte auch weitere, verbreitete Ausprägungen als Antislawismus, Antikommunismus, Antiziganismus (gegen Sinti und Roma und alle „nicht sesshaften“ Menschen) und als Diskriminierung von Homosexuellen.
Bereits 1855 hatte der französische Schriftsteller und Diplomat Gobineau in seinem Werk „Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen“ die Existenz einer „Urrasse“ und abgeleiteten „Sekundärrassen“, die „weiße“, „schwarze“ und „gelbe“ Rasse, vertreten. Seiner Ansicht nach sei die weiße „Rasse“ den anderen überlegen und innerhalb dieser die der „arischen Rasse“ zugehörige „germanische Rasse“ die Wertvollste. Dieser rassistischen Theorie zufolge führe Rassenmischung zur Degeneration. Ursprünglich aus der MEDIZINISCHEN BEGRIFFLICHKEIT entlehnt beschreibt der Begriff „Degeneration“ im 19. Jahrhundert eine kulturpessimistische Sicht auf die Gesellschaft: der Verfall der Sitten und Werte, die veränderte Lebenswelt der Menschen, Verstädterung und Industrialisierung seien Ursachen einer – wortwörtlichen und übertragenen – Erkrankung der Gesellschaft, die zu ihrem Niedergang führe. Erscheinungen der Degeneration (oder „Entartung“) seien beispielsweise Alkoholismus, Homosexualität und Verbrechen.[7]
Um die Jahrhundertwende war die Betrachtung rassentheoretischer Ansichten modern und gesellschaftsfähig, vor ALLEM begann eine vermehrte Diskussion über die Konsequenzen aus den gewonnenen Erkenntnissen. Als bedeutende Entwicklung ist die Formulierung rassenhygienischer Eingriffe in die Bevölkerung festzuhalten.[8] Unter Rassenhygiene oder auch Eugenik fällt die „Menschenzüchtung“ zum Erhalt und AUSBILDEN rassisch-biologisch „wertvoller“ Menschen. Bezüglich der Umsetzung wird quantitative von qualitativer Eugenik, also die Steigerung der (relativen) Anzahl der „wertvollen“ Menschen gegenüber dem Grad der Ausprägung positiver Eigenschaften, und zwischen positiver und negativer Eugenik unterschieden, bei der die Maßnahmen zur Förderung der biologischen Elite gegenüber der Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens abgegrenzt werden. Am 22.Juni 1905 wurde in Berlin die „Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene“ gegründet und damit Rassenhygiene der medizinischen Forschung unterstellt und wissenschaftlich anerkannt. Als Entgegnung auf die Probleme der Zeit und die Angst vor der Degeneration der Gesellschaft wurden Antworten und praktische Hinweise erwartet. Ausdruck der politisch-gesellschaftlichen Relevanz ist ein im Juli 1914 verfasster erster Entwurf für eine gesetzliche Regelung von Sterilisation und Abtreibung bei medizinischer Indikation.[9]
Der Erste Weltkrieg markierte ein einschneidendes Erlebnis in dem Alltag der Bevölkerung. In dem Stellungskrieg an der Front gab es hohe Verlustzahlen. Vor allem die körperlichen und geistigen Folgen und Spätfolgen durch den Kriegsdienst waren immens. Durch neue Waffen und Kriegstechniken war die Zahl der Verletzten größer als zuvor, gleichzeitig konnte die Überlebensrate durch medizinische Fortschritte und verbesserte Versorgung an der Front gesteigert werden. In den 1920er-Jahren wurde unter dem Einfluss der Erfahrungen des Krieges die Diskussion um den Wert eines Lebens unter den neuen Aspekten und Bedingungen weitergeführt. Der Umgang mit den körperlich und geistig Versehrten des Krieges im Alltag der Nachkriegszeit in der WEIMARER Republik war von Verdrängung geprägt, die eine Eingliederung der Betroffenen erschwerte. Zudem war in der Gesellschaft keine ausreichende soziale Unterstützung für die Opfer gegeben.[10] In dem Empfinden der Bevölkerung stand der Niedergang der Gesellschaft durch den Kriegsverlust und den Geburtenrückgang nach dem Krieg im Zusammenwirken mit der Wirtschaftskrise und der Inflation bevor. Auf dieser Grundlage wurde die Umsetzung von rassenhygienischen Maßnahmen quer durch alle politischen Lager auch in anderen europäischen Staaten erneut diskutiert. 1927 erfolgte durch die Gründung des „Kaiser-Wilhelm-Instituts für ANTHROPOLOGIE, menschliche Erblehre und Eugenik“ die Institutionalisierung der Rassenhygiene in der deutschen Gesellschaft und Wissenschaft.[11]
Ein weiterer Aspekt umfasste der „Euthanasiediskurs“. Der griechische Begriff euthanasia bedeutet wörtlich „schöner Tod“ und beschreibt ursprünglich die als „ars moriendi“ bezeichnete „Kunst des Sterbens“, unter der ein Tod ohne vorherige Krankheit und Leidenszeit verstanden wird. Der Begriff „Euthanasie“ im Sinne einer Sterbehilfe mit dem selbst gestalteten Eingriff in den Sterbeprozess auch zur Verkürzung von Leiden wurde erst ab dem 19. Jahrhundert verwendet. In der Auseinandersetzung um Rassenhygiene und den Lebenswert wurde in den Fachwissenschaften und in der literarischen BEHANDLUNG der Thematik Euthanasie angebracht; Sterbehilfe war ABER nach der geltenden juristischen Lage rechtswidrig. Offiziell wurden dieses Verbot der Tötung auf Verlangen in Frage gestellt, inoffiziell wurde darüber hinaus die Rechtfertigung der Tötung ohne Einverständnis im Zusammenhang der Wertschätzung kranker Menschen überdacht.[12]Der Schriftsteller Niels Henrik Thorald beschreibt in einer Programmschrift die Verschiedenheit der Menschen in Abhängigkeit zu ihrem „Wertfaktor“ für die Gesellschaft und zieht aus der FINANZIELLEN BELASTUNG durch behinderte und kranke Menschen die Konsequenz, dass sie „ins Jenseits befördert werden [sollten]“.[13] Es gab aber auch Gegenstimmen: der Arzt Hans Brennecke wies auf die unter wissenschaftlichen Argumenten verschleierte Motivation des Materialismus hin.[14]
II. Medizinische Aspekte der NS-Ideologie – Das gesundheitspolitische Programm der NSDAP und dessen Umsetzung von 1933 bis 1945
Vor der Machtübernahme durch Hitler und die NSDAP gab es kein dezidiert nationalsozialistisches GESUNDHEITSPROGRAMM. Hitler vertrat völkisch rassistische Vorstellungen und beschrieb in seiner programmatischen Schrift „Mein Kampf“ zum Aspekt der „Rasse“ die negativen Auswirkungen einer Rassenmischung für das deutsche Volk und dachte bereits über Mittel zur positiven und negativen Rassenhygiene nach. In den Vordergrund wurden die Betrachtung des „Volkskörpers“, Bemühungen zur Steigerung der „Qualität des Volkskörpers“ und rassenideologische Ansichten gestellt.[15]
Mit der Machtübernahme 1933 wurden die gesundheitspolitischen Vorstellungen ausgearbeitet und konkretisiert. Die nationalsozialistische Gesundheitspolitik ging einerseits einher mit der Gleichschaltung und „Arisierung“ der Gesellschaft, darüber hinaus wurde über die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ negative Eugenik und über Geburtenförderung, Leistungsmedizin und Auslese von Eliten positive Eugenik betrieben. Die medizinische Forschung, besonders beeinflusst durch die EINRICHTUNG von Konzentrationslagern, und die Entwicklung der Medizin unter dem Einfluss des Zweiten Weltkrieges sind weitere Aspekte, die in die Betrachtung eingeschlossen werden müssen.
Ausschluss der jüdischen Ärzteschaft von ihrer Berufsausübung
Die Ärzteschaft war 1933 von einem hohen Anteil jüdischer Ärzt_innen geprägt. Im Vergleich zu dem gesamten Bevölkerungsanteil jüdischer Bürger_innen in Deutschland von 0,9 Prozent waren 17 Prozent der Ärzt_innen jüdischen Glaubens oder Herkunft. Jüdische Ärzt_innen waren hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen und auch politischen Einstellung liberaler und moderner eingestellt als ihre Kolleg_innen.[16] Dem gegenüber stand eine größere Gruppe konservativer Ärzteschaft, für die sich die NSDAP als Vertreter stilisierte. Bereits im August 1929 war der „Nationalsozialistische Deutsche Ärztebund“ (NSDÄB) als Zusammenschluss gegen traditionelle Ärztebünde gegründet worden. In dem Blatt „Ziel und Weg“ wurden konservative, antijüdische Ärzt_innen gezielt angesprochen. Für die NSDAP war der Zugang zur ärztlichen Berufsgemeinschaft von großer Bedeutung, da die Ärzt_innen direkten Zugang zu wichtigen, intimen Informationen über ihre Patient_innen hatten. Indem sich die Nationalsozialist_innen die Unterstützung durch die konservative Ärzteschaft sicherten, konnten sie gezielt breiten Einfluss auf die Gesundheitssituation in Deutschland nehmen.[17] Durch die antisemitische und antimodernistische Einstellung vieler Ärzt_innen fiel das Einwirken über den Ärztebund und weitere propagandistische Maßnahmen auf fruchtbaren Boden und bildete die Grundlage für den hohen Anteil an NSDAP-Mitgliedern in der Ärzteschaft und die Instrumentalisierung der Ärzt_innen für die Umsetzung nationalsozialistischer GESUNDHEITSPOLITIK.
Verankert wurden die Vorhaben der Nationalsozialist_innen in der Schaffung neuer Institutionen. Zur Erb- und Rassenpflege wurden das „Hauptamt für Volksgesundheit“ (HAVG) gegründet, das sich vor allem mit (propagandistischen) Maßnahmen zur positiven Eugenik befasste. Dem „Rassenpolitische Amt“ (RPA) oblag offiziell die Organisation der negativen Eugenik. Da die beiden Institutionen neben dem ÖFFENTLICHEN GESUNDHEITSWESEN mit dem Reichsgesundheitsamt existierten, gab es in der Koordination der Aufgabenbereiche wiederholt Irritationen, die auf die verzweigte und sich überschneidende Organisation und unklar abgegrenzte Verantwortungsbereiche zurückzuführen waren. Häufig wurden vor allem propagandistische Aufgaben von dem „Hauptamt für Volksgesundheit“ und dem „Rassenpolitischen Amt“ wahrgenommen, während ausführende Tätigkeiten von anderen speziellen Stellen, beispielsweise der SS, übernommen wurden.[18]
Die Vertreibung jüdischer Ärzt_innen setzte mit der Machtübernahme sofort sowohl offiziell betrieben als auch durch unterschwellige Diskriminierung ein. Antisemitische Einstellungen wurden durch eine sexualisierte Form noch in ihrem Ausmaß erweitert, indem jüdischen männlichen Ärzten Übergriffe an „deutschen Frauen“ unterstellt wurden. In dem nationalsozialistischen Blatt „Der Stürmer“ und auch durch das Blatt „Ziel und Weg“ des NSDÄB wurde Hetze gegen die jüdische Ärzteschaft betrieben. Bereits im Februar 1933 gab es an medizinischen Fakultäten Proteste gegen jüdische Studierende; am 01. April desselben Jahres gab es einen Boykott durch die SS und die SA, bei dem jüdische Ärzt_innen und Anwält_innen an ihrer Berufsausübung gehindert wurden und der deutschen Bevölkerung von dem Besuch jüdischer Ärzt_innen abgeraten wurde. Durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 07. April 1933 wurden neben politischen Gegner_innen des nationalsozialistischen Systems auch jüdische Ärzt_innen aus ihrem Beruf vertrieben. Allgemein ergab sich durch die Verdrängung ungewollter Ärzt_innen und den personellen Wechsel eine Umkehr (beziehungsweise Rückkehr) von einem karitativen, gleichwertigen Bemühen um einzelne Patient_innen hin zu einer entindividualisierten medizinischen Betrachtung des gesamten „Volkskörpers“. Über die praktizierenden Ärzt_innen hinaus wurde auch in der Ausbildung des medizinischen Nachwuchses an den Universitäten und Hochschulen jüdische Studierende durch das „Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen SCHULEN UND HOCHSCHULEN“ vom 25. April 1933 ausgeschlossen. An den Universitäten kam es darüber hinaus zu erheblichen Veränderungen; vor allem in der medizinischen Forschung wurden ganze Forschungsgruppen und -abteilungen durch die Entlassungen der jüdischen Mitarbeiter_innen zerstört.[19]
Die Ausschaltung jüdischer Ärzt_innen wurde bereits durch die 1933 erlassenen Gesetze so weit umgesetzt, dass die „Nürnberger Gesetze“ von 1935 keine weiteren Auswirkungen auf die Beschäftigung jüdischer Mediziner_innen in Krankenhäusern und KLINIKEN hatten. Jedoch stellten sie für niedergelassene Ärzte_innen in eigenen Praxen durch das Beschäftigungsverbot von nicht-jüdischen Angestellten eine weitreichende Einschränkung dar. Schließlich wurde in einer Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom Juli 1938 jüdischen Ärzt_innen die Approbation entzogen; 1939 wurden auch die Zulassungen jüdischer Zahnärzt_innen, Tierärzt_innen und Apotheker_innen ungültig.
In dem Zeitraum von 1933 bis 1938 wurden von insgesamt rund 52.000 Ärzt_innen in Deutschland ungefähr 9.000 jüdische Ärzt_innen von ihrer Berufsausübung ausgeschlossen. Nur in der Versorgung der jüdischen Bevölkerung waren wenige Ärzt_innen weiterhin aktiv. Wer nicht emigrierte, musste die nationalsozialistischen Verfolgung erleiden.
Mit dem Überfall der Sowjetunion begannen die Deportationen auch deutscher Bürger_innen jüdischen Glaubens in Konzentrations- und Vernichtungslager, unter ihnen auch die jüdischen Ärzt_innen, die in Deutschland trotz Berufsverbot geblieben waren. [20]
Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (1933)
Die Diskussion um die negative Eugenik in der Hinsicht einer „Bewertung“ von körperlich oder geistig behinderten oder kranken Erwachsenen und Kindern war bereits vor 1933 – wie oben beschrieben – in der Öffentlichkeit und den Wissenschaften geführt worden. Betrachtete Faktoren waren neben der qualitativen „Verbesserung des Volkskörpers“ vor allem die FINANZIELLE BELASTUNG durch die sich ergebende medizinische und soziale Versorgung, die im Zuge der Weltwirtschaftskrise ab 1929 an Bedeutung zunahm. In „Mein Kampf“ beschrieb Hitler die „Absonderung“ Erbkranker als „unglückliche Maßnahme für die Betroffenen, aber Segen für die Mit- und Nachwelt“. In der Verhinderung der Weitergabe von Erbkrankheiten wurde nach Ansicht der Nationalsozialist_innen die „Volksgemeinschaft“ dauerhaft „gebessert“.[21]
Die nationalsozialistische Politik griff die Idee der negativen Eugenik auf und setzte sie radikal um. Am 25. Juli 1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet und trat mit dem Jahreswechsel 1933/1934 in Kraft. Es folgte in wesentlichen Aspekten und Formulierungen einem Entwurf für ein preußisches „Sterilisationsgesetz“ vom Juli 1932, in dem die Sterilisation nur unter freiwilliger Zustimmung des Betroffenen erwogen worden war. Darüber hinaus wurde im „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933 auch gegen den Willen der Betroffenen Sterilisationen legalisiert. Die Erlaubnis für einen Eingriff war bei verschiedenen Indikatoren gegeben: „bei ANGEBORENEM Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, erblicher Fallsucht, erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Cholera), erblicher Blindheit, erblicher Taubheit, schwerer erblicher körperlicher Missbildung, schwerem Alkoholismus“. Die Entscheidung über die Durchführung einer Sterilisation oblag eigens eingerichteten „Erbgesundheitsgerichten“, die den Oberlandesgerichten angegliedert wurden.[22] Dabei oblag die Entscheidung einem Gremium aus jeweils einem Mitglied des Oberlandesgerichtes, einem/einer Arzt/Ärztin und einem/einer weiteren Arzt/Ärztin, „der [/die] mit der Erbgesundheitslehre besonders vertraut“ sein sollte.[23] Das weist darauf hin, dass dieses Amt mit denjenigen Ärzt_innen betraut werden konnte, die ideologiekonform und zuverlässig entschieden. Zudem war die Entscheidung „entgültig“, das hieß nicht anfechtbar. [24]
Im ersten Jahr der Umsetzung des Gesetzes wurden rund 84.000 ANTRÄGE auf Sterilisationen gestellt. Von diesen wurden ungefähr 62.000 Anträge von den Erbgesundheitsgerichten zugelassen und die Hälfte in der Praxis umgesetzt. Diese Zahl stieg in den folgenden Jahren an, insgesamt wurden zwischen 1933 und 1945 Schätzungen zufolge rund 400.000 Menschen sterilisiert, dabei starben mehrere tausend Menschen, insbesondere Frauen, an Komplikationen bei oder infolge der OPERATIONEN. Auch begingen einige vor dem Eingriff Suizid.[25] Einspruch gegen den Antrag auf die Zwangssterilisation erwirkte einen Aufschub der Umsetzung, hatte ABER dauerhaft keinen Erfolg. In der Folge wurden die Bestimmungen noch verschärft und neben „Erbkranken“ auch Angehörige von Minderheiten wie Sinti und Roma Zwangssterilisationen unterzogen.[26]
„Vernichtung lebensunwerten Lebens“ – nationalsozialistische „Euthanasie“ als Mord an Kranken, Behinderten, Kindern
In der Folge der Zwangssterilisationen ist die Vernichtung von Menschenleben, die von den Nationalsozialist_innen als „lebensunwert“ angesehen wurden, als Radikalisierung der vorangegangenen Taten zu sehen. Das verachtende Menschenbild der Ideologie des Nationalsozialismus gipfelte in diesen Morden an unschuldigen Menschen. Ab Oktober 1939 wurden mehr als 200.000 Psychiatriepatient_innen und Insassen von Krankenlagern, darüber hinaus auch den gesellschaftlichen Normen und Vorstellungen (vermeintlich) zuwiderhandelnde Menschen erfasst und ermordet.[27]
Parallel zur Planung eines „Euthanasie-Gesetzes“ ab dem Sommer 1939 wurden über Meldebögen der gesundheitliche Zustand von Psychiatriepatient_innen und Kranken systematisch erfasst. Letztendlich wurde kein Gesetz zur Legalisierung der Morde verabschiedet. Als Basis für die Aktionen diente eine Ermächtigung zum Töten von Hitler vom Oktober 1939[28], die aber weder als gesetzliche Bestimmung noch als Befehl auszulegen war. Mit der offenen Formulierung konnte sich Hitler scheinbar aus der Verantwortung ziehen – die Verantwortung für die Taten müssen jedoch alle Personen übernehmen, die in Organisation, Planung und Umsetzung der Morde beteiligt waren. Die beteiligten Ärzt_innen sahen sich jedoch vielfach als Umsetzer_innen von fortschrittlichen und modernen Ansichten in der Praxis der „Irrenhäuser“.[29]
Die Mordaktionen wurden in verschiedenen Wellen und unter unterschiedlicher Leitung durchgeführt. Man differenziert zwischen den Morden an Kindern, der „Aktion T4“, der „Aktion Sonderbehandlung 14f13“, den Morden an Kranken und anderen Bevölkerungsgruppen in besetzten Gebieten und der „Aktion Reinhardt“.
Die „Aktion T4“, benannt nach dem Sitz der zentralen Leitung in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, kann in verschiedene Phasen unterteilt werden. Nach Beginn der systematischen Erfassung durch Meldebögen wurde im August 1939 auch eine Meldepflicht für Missbildungen bei Kindern eingeführt. Diese bildete die Grundlage für die Ermordung behinderter Kinder ab Ende September 1939. 100.000 Kinder wurden erfasst, davon 20.000 Kinder hinsichtlich ihrer Erkrankung genauer beurteilt und über ungefähr 5.000 das Todesurteil gefällt. Sie wurden in „Kinderfachabteilungen“ verlegt und dort vor allem durch Giftinjektionen umgebracht. Die Leichen der Opfer wurden zum Teil noch zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet.
Zur Jahreswende 1939/1940 trat die Aktion mit der Ermordung auch von Erwachsenen in eine neue Phase ein. Über die Gutachterkommission wurden die erfassten Daten bearbeitet. Von rund 280.000 Meldebögen ausgehend wurden 70.000 Menschen zu Tode verurteilt. Die Morde wurden sowohl mittels Giftinjektionen als auch durch Vergasung in Gaskammern durchgeführt. Die Orte der Mordaktionen waren in ganz Deutschland und Österreich verteilt: in Hadamar bei Limburg (an der Lahn, Hessen), in Grafeneck bei Reutlingen (Baden-Württemberg), in Hartheim bei Linz (Österreich), in Sonnenstein bei Pirna (Sachsen) und Bernburg bei Magdeburg (Sachsen-Anhalt). Obwohl die Verantwortlichen versuchten, die Aktionen geheim zu halten, drangen Informationen an die Öffentlichkeit und so erfolgten ab Juli 1940 erste Proteste, vor allem aus den Kirchen heraus. Mit steigender Kritik und Protest wurden die „Aktion T4“ – vorerst – nicht mehr haltbar und im August 1941 eingestellt. Schon ein Jahr später wurde die Ermordung Erwachsener zunächst in Hadamar unter höchster Geheimhaltung wieder aufgenommen. Durch eine Meldepflicht für Patient_innen psychiatrischer Einrichtungen konnten die systematischen Massenmorde weiterhin geplant und umgesetzt werden, wenn auch unkoordinierter und „ineffizienter“ als zuvor.[30]
Die „Aktion Sonderbehandlung 14f13“ stand in Verbindung mit der „Aktion T4“, insofern das Personal und die Einrichtungen der „Euthanasie“-Aktion genutzt wurde, um geistig beeinträchtigte und kranke Insassen der Konzentrations- und Arbeitslager umzubringen. Der Mord folgte dem unmittelbaren Befehl des SS-Reichsführers Himmler, der in einem Geheimbefehl an den Kommandanten des Lagers Buchenwald (bei Weimar, Thüringen) die Tötung aller „schwachsinniger und verkrüppelter“ Häftlinge verordnete.[31] Auch in anderen Lagern wurde auf Überbelegung, Unterversorgung und steigende Zahl der Krankheitsfälle mit dem Abtransport von aussortierten Menschen in nahe T4-Anstalten reagiert, in denen die Opfer umgebracht wurden.
Auch in besetzten Gebieten wurden Behinderte und Kranke ermordet. Direkt bei Kriegsbeginn wurden Anstaltsinsassen in Polen ermordet, ab September 1942 wurden auch in sowjetischen Gebieten Morde an geistig Behinderten verübt. Die Besonderheit an den Morden im besetzten Polen war der zusätzliche Einbezug der sogenannten „politischen Intelligenz“, also den Bevölkerungsgruppen, die das Land und die Gesellschaft in der Politik und Justiz, in der Wirtschaft, in der Bildung und anderen essentiellen Bereichen beeinflussten. So starben in dem ersten Jahr nach dem Überfall auf Polen im September 1939 schätzungsweise 10.000 bis 15.000 Patient_innen von „Irrenhäusern“ und darüber hinaus noch 80.000 Ärzt_innen, Lehrer_innen, Jurist_innen, Staatsbeamt_innen, Apotheker_innen, Geistliche und Gutsbesitzer_innen. Nach Einstellung von offiziellen „Euthanasie“-Aktionen im Altreich wurde das Personal der Tötungsanstalten beispielsweise nach Polen verlegt und war dort an der Ermordung beteiligt.[32]
Durch die „Aktion T4“ wurden schätzungsweise 80.000 Menschen bis zur offiziellen Einstellung im August 1941 ermordet, der „Aktion 14f13“ fielen weitere rund 10.000 Menschen zum Opfer. Die Opferzahlen der vergleichsweise unkoordinierten „Euthanasie“-Aktionen nach der offiziellen Einstellung der Aktionen und in den besetzten Gebieten lassen sich schwer einschätzen.[33]
Neben den Morden an Kranken, Behinderten oder Menschen, die unter diesen Kategorien aus den unterschiedlichsten Gründen eingestuft wurden, gab es noch vielfältige weitere Mordaktionen. Das größte Ausmaß hatte die Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung, darüber hinaus der Mord an Sinti und Roma, die Verfolgung Homosexueller, politischer Gegner_innen und allen weiteren Gruppen, denen durch die nationalsozialistische Ideologie die Existenzberechtigung abgesprochen wurde.
Über die offiziellen geplanten Mordaktionen hinaus fielen im Zuge der Konzentration und Segregation kranker oder behinderter Menschen viele der schlechten Versorgung zum Opfer. Besonders im Zweiten Weltkrieg wurde billigend in Kauf genommen, dass Menschen aufgrund der Unterversorgung mit Nahrungsmitteln verhungerten.[34]
Körperkult und Sport – Gesundheitsführung und Leistungsmedizin – positive Eugenik
Kennzeichnend für das nationalsozialistische Gesundheitsprogramm war, wie auch in anderen Bereichen des alltäglichen Lebens der Menschen, die Vereinnahmung der Individuen für die nationalsozialistische Ideologie. Der Mensch, der im totalitären Staat geboren wurde, aufwuchs und sein gesamtes (Arbeits-)Leben verbrachte, wurde von politischen Interessen auch hinsichtlich seines Körpers und seiner Gesundheit vereinnahmt. Der funktionierende, leistungsfähige Mensch sollte in der Gesellschaft seine zugewiesene Arbeit verrichten. Im Nationalsozialismus ergab sich dabei eine differenzierte Betrachtung der Leistung nach dem Geschlecht.
Die Entwicklung des Mannes – in seinem Körper und Geist – war auf die Ausbildung eines Soldaten gerichtet. Von Kindesbeinen an wurde sowohl über die Schule als auch über die Hitlerjugend Einfluss durch den nationalsozialistischen Staat auf die Jungen ausgeübt. Das bedeutete in der Umsetzung: im Schulsport und in der Freizeitbeschäftigung sollten den Jungen vormilitärische Fähigkeiten und nationalsozialistische Überzeugungen vermittelt werden - „Rassebewusstsein, Volksgemeinschaft, Wehrhaftigkeit, Führerschaft“ kombiniert mit sportlichen Wettkämpfen, gemeinsamen Gruppenaktivitäten und ersten Umgang mit militärischem Gerät. Der Anspruch wurde mit der Wendung „flink wie die Windhunde, zäh wie Leder, und hart wie Kruppstahl“ zusammengefasst.[35]
Neben dem angestrebten Wehr- und Kriegsdienst wurde auch in der Arbeitswelt Physis und Psyche durch die nationalsozialistische Ideologie geformt. Leistungswille und erbrachte Leistung standen im Vordergrund eines idealen Arbeiters. In der Praxis äußerte sich diese Vorstellung in der Erhöhung des Drucks auf den Arbeiter durch die Vorgesetzten und Betriebsärzt_innen, die präventive Maßnahmen durchführten, aber auch zur Kontrolle und als Informationsquelle für den totalitären Staat dienten und instrumentalisiert wurden.[36]
Mädchen hingegen unterlagen einer anderen Idealvorstellung. Sie sollten in der Mutterschaft ihre Erfüllung finden und auf dieses Ziel waren alle, die weibliche Gesundheit und Körper, betreffenden Aspekte ausgerichtet. Sportlich durften sich Mädchen nur gymnastisch betätigen – Gymnastik galt als geeigneter Sport zur Leibesertüchtigung bei gleichzeitiger „Schonung der Geschlechts- und Fortpflanzungsorgane“.[37] Der Frau wurde in der Gegenüberstellung zum Mann nur wenige Mitsprache- und Selbstbestimmungsrechte zugesprochen. In der politischen Propaganda wurde die Frau als Mutter und als „Wächterin des Blutes“ dargestellt und so rassistische Ansichten in die Familienplanung integriert. Im Sinne der positiven Eugenik wurde ein ausgeprägter Pronatalismus, also die Förderung der Geburten, betrieben, der im scharfen Gegensatz zu der Auslese stand, die sowohl durch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ als auch durch den Mord an behinderten und kranken Kindern betrieben wurde.
Die übergeordnete Gesundheitsprogrammatik zeigte unterschiedliche Tendenzen. Zum einen griffen die Nationalsozialist_innen einige Ansätze der Lebensreformbewegung und der Jugend- und Wanderbewegungen der Jahrhundertwende auf und versuchten auf anthroposophischen Grundsätzen ökologische Lebensmittelproduktion in der Landwirtschaft zu integrieren. Zum anderen hielt man an der klassischen Schulmedizin fest und war offiziell der Anthroposophie feindlich eingestellt. Im Fokus standen letztendlich alle Maßnahmen zur Besserung der „Volksgemeinschaft“. Dafür wurde der Verzicht auf Alkohol- und Tabakkonsum und eine gesunde, sportliche Lebensführung propagiert.[38]
Medizinische Forschung – Humanexperimente
Kennzeichnend für die schnelle Verbreitung und Integration des nationalsozialistischen Gedankenguts an den medizinischen Fakultäten der deutschen Hochschulen war das „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ im November 1933 am Vorabend der Reichstagswahl.[39] Gleichzeitig wurde damit die politische Unterstützung und die Unterordnung der Wissenschaft unter die nationalsozialistische Ideologie signalisiert. Die medizinische Wissenschaft wurde wie alle anderen Bereiche der Forschung und Lehre an deutschen Hochschulen und Universitäten gleichgeschaltet und der nationalsozialistischen Führung unterworfen – oder die Entscheidungshoheit und Autorität durch das Bekenntnis einiger führender Professor_innen bereitwillig dem Regime übertragen. Infolgedessen wurden jüdischen Wissenschaftler_innen und politische Gegner_innen des Regimes teilweise auf Betreiben der eigenen Fakultätsangehörigen und Mitarbeiter_innen aus ihrem Beruf vertrieben oder in den Ruhestand versetzt. Von folgenreicher Bedeutung war die der Übernahme des Führerprinzips und nationalsozialistischer Ideologien geschuldete Abhängigkeit der Wissenschaft und Forschung von politischen Einflüssen und die Unterordnung aller moralisch-ethischer Bedenken unter die Weisung der Autoritäten.
Innerhalb der Forschungsbetätigung lässt sich in der Zeit von 1933 bis 1945 ein Nebeneinander vieler wissenschaftlicher Disziplinen erkennen, das trotz der nicht im besonderen Maße ausgeprägten staatlichen Lenkung eine intensivierte Betrachtung der Forschungsfelder mit Kontakt zu nationalsozialistisch-rassenideologischen sowie militärischen Bereichen zeigt. Das betraf vor allem die Vererbungswissenschaften, Leistungsphysiologie und Infektiologie. Verantwortlich für die wissenschaftliche Forschung war das „Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“, ab 1937 war der „Reichsforschungsrat“ zentrales Gremium zur Koordination der Forschung.[40]
Die medizinische Forschung hatte zugleich die Aufgabe, die nationalsozialistische rassistische Biopolitik wissenschaftlich zu untermauern, diese auszuführen und Wege der Umsetzung zu testen und zu erforschen. Einzelne Bereiche wurden durch eigene Ämter und Forschungsstellen betrachtet und unterstützt. In der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ wurden Sterilisationen und Mordaktionen an Sinti und Roma mit einer scheinbaren „wissenschaftlichen Basis“ versehen; in der „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung“ wurde weniger geforscht, sondern vielmehr die Registrierung homosexueller Männer zur Sterilisation vorgenommen; in SS eigenen „Untersuchungsstellen“ wurden Versuchslabore in Konzentrationslagern eingerichtet. Medizinische Wissenschaftler_innen und Ärzt_innen waren im Robert-Koch-Institut zur Infektionsforschung oder in einer eigenen „Militärärztlichen Akademie“ angestellt. Darüber hinaus existierte ein „Amt für Sanitätswesen und Lagerhygiene“, das die medizinische Versorgung der Lagerangestellten organisierte und für die konkrete Planung und Umsetzung der Mordaktionen an den Lagerinsassen als verantwortlich angesehen werden muss. Durch die verantwortlichen SS-Militärs und Lagerärzt_innen erfolgte auch die Auswahl bestimmter Deportierter für Humanexperimente.[41]
Die Menschenversuche zur Zeit des Nationalsozialismus erfolgten sowohl auf persönliche Weisung Himmlers durch das „Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung“ als auch auf persönliches Betreiben und Agitation einzelner Ärzt_innen und medizinischer Wissenschaftler_innen, die damit ihre Karriere antreiben wollten. Die Versuche waren in der Mehrheit für die militärische Forschung bedeutsam und wurden an wehr- und schutzlosen Menschen in den Konzentrationslagern durchgeführt. Die Versuchspersonen wurden gegen ihren Willen und bei Missachtung aller Persönlichkeitsrechte zu den Versuchen gezwungen. Von den durchführenden Ärzt_innen wurde der Tod der Versuchspersonen in Kauf genommen oder sogar beabsichtigt. Humanexperimente mit einem größeren Ausmaß wurden bei den Unterdruck- und Unterkühlungsversuchen und Versuchen zur Verwendung und Aufbereitung von Meerwasser als Trinkwasser im Konzentrationslager Dachau und Buchenwald durchgeführt; im Konzentrationslager Buchenwald wurden darüber hinaus Personen mit Fleckfieber und Hepatitis-epidemica-Viren infiziert, um Impfstoffe zu testen. Im Konzentrationslager Sachsenhausen und Natzweiler-Struthof und dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück wurden die Folgen der Anwendung von Kampfstoffen und Giftgasen betrachtet und dabei Menschen vorsätzlich mit diesen giftigen Stoffen in Kontakt gebracht. Auch für die nationalsozialistische Eugenik wurden wichtige neue Sterilisationsmethoden an Lagerinsassen getestet. Die Humanexperimente führten zu quälenden Schmerzen und zusätzlichem Leiden bei den Versuchspersonen, an denen die Opfer vielfach erlagen. Obwohl die Menschenversuche in der NS-Zeit von der medizinhistorischen Forschung viel betrachtet wurden, ist es schwierig, genaue Opferzahlen zu bestimmen, da sich zumeist Überschneidungen mit anderen Opfergruppen ergeben und die Dokumentation der Versuche unterschiedlich ausfällt.
III. NS-Medizin vor Gericht – Der „Nürnberger Kodex“
Die Alliierten hatten in dem Londoner Viermächteabkommen unterschiedliche Verfahren zur juristischen Aufarbeitung nationalsozialistischer Unrechtstaten beschlossen. Die Mediziner_innen, die als Hauptkriegsverbrecher_innen eingestuft wurden, wurden in den Nürnberger Prozessen vor einer internationalen Gerichtsbarkeit angeklagt, während weitere Beteiligte vor nationale Gerichtshöfe gestellt wurden. Die Verhandlung und Verurteilung der Mannschaften der Konzentrationslager begann bereits im September 1945 mit der Anklage der Mannschaft des Konzentrationslagers Bergen-Belsen. Durch die starke Beteiligung der Presse und intensive Berichterstattung wurde die deutsche Bevölkerung mit dem Massenmord in den Vernichtungslagern konfrontiert. Vor Gericht standen der SS-Lagerkommandant, SS-Aufseher und der Lagerarzt sowie „Funktionshäftlinge“. Durch die Verantwortung an der Selektion zur Deportation in das Vernichtungslager Auschwitz wurde der Lagerarzt zum Tode verurteilt.[42] Auch in weiteren Prozessen gegen die Lagerärzt_innen der Konzentrationslager wurden Todesurteilen oder lebenslange Haftstrafen ausgesprochen; die Urteile wurden jedoch im Laufe der Zeit milder.
In dem Nürnberger Ärzteprozess wurden 19 Ärzte und eine Ärztin sowie ein Jurist und zwei Verantwortliche für ORGANISATION und Verwaltung vor Gericht gestellt. Die Anklage der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezog sich vor allem auf eine bedeutende BETEILIGUNG an der Planung und Umsetzung der Euthanasiemorde und Humanexperimenten. Die Verteidiger versuchten, die besonderen Umstände im Krieg und die Wichtigkeit der Experimente für die Wehrforschung zur Hilfe für das Überleben der eigenen Soldaten herauszustellen, außerdem wurde die eigene Verantwortung heruntergespielt, indem auf den überlebenswichtigen Gehorsam gegenüber der Befehlsgewalt verwiesen wurde. Nach sieben Monaten Verhandlung wurden am 20. August 1947 die Urteile verkündet. Sieben Todesurteile wurden verkündet, gegen neun Beteiligte wurden lange Haftstrafen verhängt, sieben Beteiligte wurden freigesprochen. Die Freisprüche stehen auch stellvertretend für den Umgang mit anderen Mediziner_innen, die an Unrechtstaten im nationalsozialistischen Staat beteiligt gewesen waren. Viele wurden nicht zur Rechenschaft gezogen oder entzogen sich ihrer Verantwortung durch Flucht, Untertauchen oder Suizid.[43]
In der Nachkriegszeit wurden viele Opfergruppen erst nach einiger ZEIT anerkannt und entschädigt. In der medizinhistorischen Forschung brachte besonders die Forschungsarbeit von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke die Humanexperimente, die sich ausgehend von einer Kommission zur Beobachtung der Nürnberger Prozesse mit der Thematik auseinandersetzten, neue Erkenntnisse.
Zur Vermeidung einer zukünftigen Wiederholung menschenunwürdiger Experimente an Versuchspersonen, deren Beteiligung erzwungen wird und ohne Aufklärung erfolgt, wurde 1947 der „Nürnberger Codex“ mit Grundsätzen zu medizinischen Versuchen beschlossen. In diesem 10-Punkte-Katalog wird als erster entscheidender Punkt die Freiwilligkeit der Probanden bei der Beteiligung an Versuchen festgeschrieben.[44] Auch die Umsetzung eines Befehls von Vorgesetzten befreit nicht von der Beachtung dieses Grundsatzes. Diese Begründung wurde häufig als Rechtfertigung angebracht, konnte häufig ABER auch widerlegt werden, da Ärzt_innen oft auf eigenes Betreiben menschenunwürdige Humanexperimente durchführten. Erwähnenswert ist, dass es bereits 1931 „Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen“ gab, die die Freiwilligkeit der Versuchspersonen voraussetzten, die Humanexperimente im Nationalsozialismus also bestehende medizinische Richtlinien brachen.[45]
Die thematischen Inhalte folgen denmächst.
Die thematischen Inhalte folgen denmächst.
Die thematischen Inhalte folgen denmächst.
Die thematischen Inhalte folgen denmächst.